[FONT="]Schließlich ein Hilferuf aus 504 Brühl, in kra*keliger Schrift: „Ich bin Schüler, 16 Jahre alt und besuche eine höhere Schule. Vor kurzem wurde im Deutschunterricht eine Klassen*arbeit über Ihr Gedicht ,Geburtsanzeige' ge*schrieben. Über meine Interpretation geriet ich mit meinem Lehrer in einen Meinungs*streit. Die sprachliche Unzulänglichkeit mei*ner Arbeit ist mir be*wußt. Ungerecht finde ich nur das Pau*schal-Urteil, daß meine Darstel*lung dem Gedicht in keiner Weise gerecht wird'. Es wäre sehr freundlich, wenn Sie mir mittei*len könnten, ob ich Ihr Gedicht wirklich vollkommen falsch ausgelegt habe." Die*sem Brief liegt eine Fotokopie der Klassen*arbeit bei. In der Handschrift des Lehrers sind darauf folgende Randbemerkungen und Zu*sätze zu entziffern: „Sachlich falsch!" - „Das ist viel zu eng und ver*schiebt die Thematik." -„Davon ist an kei*ner Stelle die Rede." - „Da*von steht nichts im Text." - „Das ist so nicht richtig." - „Diese Situation existiert im Ge*dicht nicht." - „Die 6. Strophe wird völlig au*ßer acht gelassen." - „Das kann so nicht dem Text entnommen werden." - „Sachlich falsch! Diese Verwendung des ,wenn' liegt nur in der letzten Strophe vor. Aber das hätte dann schon[/FONT][FONT="] dargelegt werden müssen." - „Die Darstellung wird dem Gedicht in kei*ner Weise gerecht." -„Mangelhaft (5)".[/FONT]
[FONT="]Der Lehrkörper, der in diesen Zeugnissen in Erscheinung tritt, ist keineswegs homo*gen; seine Methoden reichen von der sub*tilen Ein*schüchterung bis zur offenen Bru*talität, seine Motivationen von reinstem Wohlwollen bis zum schieren Sadismus. All dieser Nuancen ungeachtet, macht jener Lehrkörper doch im ganzen den Eindruck einer kriminellen Ver*einigung, die sich mit unsittlichen Handlungen an Abhängigen und Minderjährigen vergeht, wobei es ge*legentlich - dabei denke ich vor allem an die Randbemerkungen aus Brühl - zu Fäl*len von offensichtlicher Kindesmißhand*lung kommen kann. Als Tatwaffe dient jedes*mal ein Gegenstand, dessen an und für sich harmlose Natur ich bereits dargelegt habe: das Gedicht.[/FONT]
[FONT="]Wie aber kann aus einem so fragilen3 Ob*jekt ein gemeingefährliches Angriffswerk*zeug wer*den? Dazu sind besondere Vor*kehrungen nö*tig. Wer von uns ist sich schon der Tatsache bewußt, daß er mit seinen Handkanten, diesen unscheinbaren und kaum benutzbaren Außenseiten, Mord und Totschlag begehen könnte? Dazu be*darf es allerdings einer ausgebildeten Technik. Sie heißt Karate, und an jeder dritten Straßenecke gibt es in Deutschland eine Schu*le, wo man sie erlernen kann. Die analoge Fer*tigkeit, die es erlaubt, aus einem Gedicht eine Keule zu machen, nennt man Interpretation.[/FONT]
[FONT="]An der Entwicklung dieser Technik sind die Pädagogen natürlich unschuldig. Eingeübt und verfeinert wird sie nämlich in erster Linie an den Universitäten, wo aus unbe*kannten Gründen eigens Wissenschaftler zu diesem Zweck beschäftigt werden. Von diesen Zen*tren aus breitet sich dann die „philiströse4 Wei*gerung, Kunstwerke in Ruhe zu lassen", über den ganzen Kultur*apparat aus. Das Zitat stammt aus einem Aufsatz, den Susan Sontag 1964 „Against Interpretation" geschrieben hat. Da er zwar berühmt geworden, aber fol*genlos geblie*ben ist, möchte ich am liebsten seitenweise daraus zitieren.[/FONT]
[FONT="]„Natürlich ", heißt es dort, „meine ichnicht die Interpretation im allgemeinsten Sinne, in dem Nietzsche (mit Recht) festgestellt hat: ,Es gibt keine Tatsachen, es gibt nur Interpretationen'. Was ich meine, ist viel*mehr ein bewußter intellektueller Akt, dem ein bestimmter Code, dem bestimmte Deutungsregeln zugrunde liegen. [/FONT]
[FONT="]In ihrer Anwendung auf die Kunst geht die Interpretation zunächst so vor, daß sie aus dem Werk im ganzen eine Reihe von ein*zelnen Ele*menten (X, Y, Z und so weiter) isoliert und sich dann an eine Art Überset*zungsarbeit macht. Der Interpret sagt: Se*hen Sie denn nicht, daß X eigentlich A ist (oder bedeutet)? Daß Y eigentlich für B und Z für C steht? ...[/FONT]
[FONT="]Der Eifer, mit dem das Projekt der Inter*preta*tion gegenwärtig verfolgt wird, speist sich we*niger aus Achtung vor dem wider*spenstigen Text (in der sich durchaus An*griffslust verber*gen kann) als aus offener Aggressivität. Der Interpret verachtet ein*gestandenermaßen die Erscheinung, die Oberfläche des Textes. Wäh*rend die tradi*tionelle Interpretation sich damit begnügte, über der wörtlichen Bedeutung einen Überbau von weiteren Bedeutungen zu errichten, bedient sich die moderne der Me*thode der Ausgrabung. Indem sie aus*gräbt, zerstört sie. Ihre Bohrarbeit, durch den Text hindurch, zielt auf einen Subtext, den sie für den einzig wahren hält ... Heute ist die Interpretation zu einem überwiegend reaktionären, unverschämten, feigen, un*terdrückerischen Projekt verkommen. So wie die Abgase der Industrie und des Au*toverkehrs die Atmo*sphäre unserer Städte verpesten, so vergiftet der massenhafte Ausstoß von Interpretationen unsere Sen*sibilität ... Interpretieren heißt, unsere Um*welt auszubeuten und sie noch är*mer zu machen, als sie ohnehin ist." Dieser her*vorragenden Tirade5 von Susan Sontag möchte ich einige Beobachtungen bei*fü*gen. Auf dem Interpretationsmarkt ist -viel*leicht wegen des zunehmenden Konkur*renz*drucks, der auf eine permanente Überproduk*tionskrise schließen läßt - ein immer rascherer Wechsel der vorherr*schenden „Raster" und „Modelle" zu be*obachten, die sich dann, dichtgedrängt wie Jahresringe, im Deutschun*terricht abla*gern, und zwar mit einer Verspä*tung, die sich aus dem Ausbildungsgang der Lehrer errechnen läßt. Der neueste akademi*sche Hit taucht also gewöhnlich erst dann an den Schulen auf, wenn er in den Semina*ren bereits von dem darauffolgenden ver*drängt worden ist. Doch gibt es in diesem permanen*ten Wechsel der Garderobe und des Jargons auch einige Konstanten. De*ren wichtigste ist die idee fixe von der „richtigen Interpreta*tion".[/FONT]
Zwangsarbeit: Gedichte interpretieren
[FONT="]An dieser Wahnvorstellung wird mit unbe*greiflicher Hartnäckigkeit festgehalten, ob*wohl ihre logische Inkonsistenz und ihre empi*rische Unhaltbarkeit auf der Hand liegen. Wenn zehn Leute einen literari*schen Text le*sen, kommt es zu zehn ver*schiedenen Lektü*ren. Das weiß doch je*der. In den Akt des Le*sens gehen zahllose Faktoren ein, die vollkom*men unkontrol*lierbar sind: die soziale und psy*chische Geschichte des Lesers, seine Erwar*tungen und Interessen, seine augenblickliche Verfassung, die Situation, in der er liest - Fak*toren, die nicht nur absolut legitim und daher ernst zu nehmen, sondern die über*haupt die Voraussetzung dafür sind, daß so etwas wie Lektüre zustande kommen kann. Das Resultat ist mithin durch den Text nicht determiniert und nicht determi*nierbar. Der Leser hat in die*sem Sinn im*mer recht, und es kann ihm nie*mand die Freiheit nehmen, von einem Text Gebrauch zu machen, der ihm paßt.[/FONT]
[FONT="]Zu dieser Freiheit gehört es, hin- und herzu*blättern, ganze Passagen zu über*springen, Sät*ze gegen den Strich zu lesen, sie mißzuverstehen, sie umzumodeln, sie fortzuspinnen und auszuschmücken mit allen möglichen Assozia*tionen, Schlüsse aus dem Text zu ziehen, von denen der Text nichts weiß, sich über ihn zu ärgern, sich über ihn zu freuen, ihn zu verges*sen, ihn zu plagiieren und das Buch, worin er steht, zu einem beliebigen Zeitpunkt in die Ecke zu werfen. Die Lektüre ist ein anar*chischer Akt. Die Interpretation, besonders die einzige richtige, ist dazu da, diesen Akt zu vereiteln. [/FONT]
[FONT="]Ihr Gestus ist demzufolge stets autoritär, und sie ruft entweder Unterwerfung oder Wider*stand hervor. Wo dieser sich rührt, sieht sie sich gezwungen, auf ihre eigene theoretische oder institutionelle Autorität zu pochen. So*fern diese auf schwachen Fü*ßen steht – ein Fall, der glücklicherweise immer häufiger wird -, versucht sie, das, was ihr fehlt, anderswo zu borgen. So er*klärt sich der Regreß6 auf den Autor, von dem man kaltblütig voraussetzt, daß er be*reit ist, sich zum Komplizen der Inter*preta*tion zu machen und seine Leser zu verra*ten, indem er, sozusagen in letzter Instanz, er*klärt, wie er es gemeint habe, wie es demzufol*ge zu verstehen sei, und damit basta.[/FONT]